Kontrafaktisches Denken - Leistungsmotor oder Bremsklotz?

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    • 08.07.2010
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    Kontrafaktisches Denken - Leistungsmotor oder Bremsklotz?

    Kontrafaktisches Denken – Leistungsmotor oder Bremsklotz?


    Ehe wir eine Entscheidung treffen, wägen wir – bewusst oder unbewusst – verschiedene, uns zur Verfügung stehende Optionen gegeneinander ab. Die Entscheidung für einen Schlag bedeutet gleichzeitig die Entscheidung gegen eine Reihe anderer Schläge, die zwar ebenso möglich gewesen wären, nach unserem Entschluss aber nie mehr Realität werden können. Nichtsdestotrotz beschäftigen uns diese "ungenutzten Optionen" häufig noch eine ganze Weile. Vor dem Hintergrund der eigentlichen Entscheidung simuliert unser Geist Alternativlösungen und kontrastiert das tatsächliche Ergebnis mit einem besseren oder schlechteren Resultat, welches freilich imaginärer Natur ist. "Hätte ich nur den Mut gehabt, den Ball longline zu spielen, wäre ... ." Das retroperspektivische Durchspielen von Handlungen, die nie Verwirklichung gefunden haben, nennt man kontrafaktisches Denken.


    Verbale und emotionale Indikatoren

    Wir alle denken kontrafaktisch. Am deutlichsten zeigt sich dies, wenn wir zu Formulierungen wie den folgenden greifen: "Wenn ich nur ...", "fast", "beinahe", "hätte", "könnte", "würde". Meistens geschieht dieser Prozess jedoch unbewusst und wird lediglich durch die emotionale Begleiterscheinung kontrafaktischer Gedanken vernehmbar: dem Bedauern, dem Zweifeln oder dem Sehnen.


    Aufwärts- und Abwärtsvergleiche

    Die Wissenschaft unterscheidet zwei Arten kontrafaktischen Denkens: den Aufwärtsvergleich und den Abwärtsvergleich. Ersterer bezeichnet das Vorstellen einer besseren als der tatsächlichen Situation und bereitet – zumindest kurzfristig – Schmerz. Letzterer ist das Sinnieren über ein schlechteres als das tatsächliche Ergebnis und steigert das Wohlbefinden.

    So sind beispielsweise Bronzemedaillengewinner kurz nach dem Wettkampf glücklicher als Silbermedaillengewinner. Während der Drittplatzierte abwärtsgerichtet denkt ("Beinahe hätte ich gar keine Medaille gehabt"), hat der Zweitplatzierte sein knappes Scheitern vor Augen ("Fast wäre es Gold geworden"). Obwohl letzterer objektiv mehr erreicht hat, ist seine Zufriedenheit in Folge des aufwärtsgerichteten Vergleichs geringer.

    Mit welcher Art kontrafaktischer Gedanken wir auf ein Ereignis reagieren, ist freilich auch persönlichkeitsabhängig. Individuen mit einem hohen Selbstwertgefühl und solche, die zu Prokrastination neigen, produzieren nachweislich mehr Abwärtsvergleiche. Indem sie sich vor Augen führen, wie viel schlechter das Ergebnis hätte sein können, hellen sie ihre Stimmung auf und umgehen peinigende Gedanken, die ihr Selbstverständnis gefährden könnten. Bei den meisten Menschen überwiegt jedoch die Anzahl aufwärtsgerichteter Gedanken, weshalb mein Hauptaugenmerk im Folgenden auf dieser Art des kontrafaktischen Denkens liegt.


    Vier Einflussfaktoren

    Verschiedene Faktoren begünstigen das Entstehen kontrafaktischer Gedanken. Einige wesentliche sind:
    • die mit dem Ereignis verknüpfte Enttäuschung,
    • die Deutlichkeit des Scheiterns,
    • die Kontrolle über vorrausgehende Ereignisse sowie
    • die Anzahl der zur Verfügung gestandenen Optionen.


    Kontrafaktisches Denken tritt am häufigsten in Folge einer negativen Erfahrung auf. Besonders nach einer knappen Niederlage grübelt unser Geist noch lange darüber, welche Alternativhandlung das Ergebnis zum Besseren gewendet hätte. "Wäre ich nur in der Ecke stehen geblieben, hätte ich den entscheidenden Ball noch bekommen" oder "Der zu zaghafte Passierschlag im Tie-Break hat mich das Match gekostet" sind nur zwei Beispiele dafür, wie wir regelmäßig versuchen, einen Schlüsselmoment zu identifizieren, welcher unser Scheitern erklärt.

    Doch nicht nur knappe Niederlagen bereiten kontrafaktischen Gedanken den Boden. Auch ein Match, welches in aller Deutlichkeit verloren wurde, kann unter Umständen zu Gedankenexperimenten einladen, die mit Bedauern einhergehen. Entscheidend ist die Kontrolle über die Handlungen und Ereignisse, die zum Scheitern geführt haben. Mit anderen Worten: War der Gegner in allen Belangen überlegen und selbst mit einer persönlichen Bestleistung unsererseits nicht zu schlagen? Oder ist die Niederlage auf Konzentrationsmängel, falsche Schlagwahl bzw. taktische Fehler zurückzuführen?

    Sofern wir die Vorereignisse kontrollieren konnten, ergo die Niederlage vermeidbar war, setzt sich unser Geist fast zwangsläufig in Bewegung und quält uns mit Hätte-Wäre-Wenn-Szenarien. Kontrolle über die Vorereignisse erhöht das Verantwortungsgefühl gegenüber den Ergebnissen und führt – sofern das Resultat unbefriedigend war – zum Hervortreten von Reue und Schuldgefühlen. Anders verhält es sich, wenn das negative Ereignis kaum unter unserem Einfluss stand bzw. durch höhere Gewalt bewirkt wurde. In diesem Fall flüchten wir uns in retroperspektivischen Pessimismus ("Eigentlich waren meine Chancen von Anfang an nicht sehr hoch"), um die Niederlage gegenüber unserem Ego abzumildern. Je größer die Enttäuschung ist, umso weniger objektiv schätzen wir unsere ursprünglich vorhandenen Chancen ein.

    Ein letzter mir wichtig erscheinender Einflussfaktor betrifft die Menge uns zur Verfügung stehender Optionen zum Zeitpunkt der Handlungsentscheidung. Aufwärtsvergleiche sind umso wahrscheinlicher, je größer die Auswahl an Schlägen und taktischen Variationen ist. Spieler mit großem Schlagrepertoire sind daher besonders anfällig für kontrafaktische Gedanken. Doch damit nicht genug: Gelehrige Wissenschaftler haben gezeigt, dass Verhandlungspartner, denen viele Alternativen zum Zwecke einer Einigung zur Verfügung stehen, mit dem Ergebnis unzufriedener sind als jene, deren Auswahl begrenzt ist. Obwohl die Studienteilnehmer mit viel Verhandlungsspielraum objektiv bessere Ergebnisse erzielten als diejenigen mit weniger Möglichkeiten, war ihre Befriedigung mit dem Ergebnis geringer.

    Auf Tennis übertragen bedeutet dies: Jemand, der verschiedene Schlagstile beherrscht und ein großes taktisches Verständnis besitzt, ist mit seinen Entscheidungen womöglich unzufriedener als jemand, dessen Spiel sehr eindimensional ist. Während letzterer seinen Stiefel runterspielt und damit entweder erfolgreich ist oder nicht, grübelt ersterer noch lange über nicht genutzte Optionen, die ihm unter Umständen ein besseres Resultat eingebracht hätten. Obwohl besagte Studie offen lässt, inwiefern die Gefühle der Unzufriedenheit langfristig anhalten, enthält sie eine interessante Andeutung: In einer Gesellschaft, in der täglich mehr und mehr Informationen und umfangreichere Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen, wird das Glück der Individuen nicht notwendigerweise gesteigert. Womöglich geschieht sogar das genaue Gegenteil.

    Nach diesen wichtigen Vorbemerkungen möchte ich zum eigentlichen Gegenstand dieses Essays übergehen. Nämlich der Frage nach dem Sinn respektive Unsinn kontrafaktischer Aufwärtsvergleiche. Weshalb verbringt der Mensch einen Großteil seiner Zeit mit dem Zaudern über längst vergangene, unabänderliche Handlungen?


    Zwei Dimensionen: Wirklichkeit und Möglichkeit

    Einige moderne Philosophen sehen den Grund in der Diskrepanz zwischen den Dimensionen der Wirklichkeit und der Möglichkeit. Die Wirklichkeit ist ein Ort der Enge, der Begrenztheit. Stets wird in ihr Mangel empfunden. Das Reich der Möglichkeiten ist demgegenüber unbegrenzt. Es verheißt ein besseres Dasein, das durch mehr Zufriedenheit, größere Annehmlichkeiten und durch Selbstverwirklichung des Individuums gekennzeichnet ist. Diese Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit löst beim Individuum eine innere Bewegung aus – das Sehnen. Im Idealfall folgt der Sehnsucht die Aktion. Das Individuum wird tätig, um sich aus der Enge der Wirklichkeit zu befreien.

    Die Erfüllung der Sehnsucht löst die Diskrepanz jedoch keineswegs auf. Es wird schnell klar, dass die neu geschaffene Wirklichkeit ihrerseits wieder begrenzt ist, sodass die Sehnsucht von Neuem gedeiht. Wirklichkeit und Möglichkeit können nie identisch sein. Gleichwohl die Überwindung der Wirklichkeit von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist, hat die Sehnsucht und die Suche nach ihrer Erfüllung dem Menschen in der Geschichte einen großen Dienst erwiesen. Sie ist der Motor jeglichen Fortschritts, sie treibt uns an und bringt uns zu unseren Erfahrungen.

    Ist kontrafaktisches Denken demnach wünschenswert, weil es das Streben nach Besserem impliziert und somit einen Lernprozess in unserem Tennisspiel in Gang setzt? Und falls ja: Ist dieser Lernfortschritt umso größer, je mehr Aufwärtsvergleiche wir anstellen? Oder gibt es eine Grenze, bis zu der kontrafaktisches Denken gerade noch motivierend ist und alles darüber hinaus zur Überforderung des Individuums führt?


    Die blaue Blume: Symbol für die Sehnsucht nach dem Unendlichen.

    Photo: Bruno Monginoux, www.Landscape-Photo.net (cc-by-nc-nd)


    Die Position der Wissenschaft

    Wenn wir irgendeine wissenschaftliche Abhandlung über dieses Thema aufschlagen, beispielsweise Roeses "The functional basis of counterfactual thinking", so lesen wir, dass kontrafaktisches Denken beim Lösen wiederkehrender Probleme leistungsverbessernd wirkt. Obschon der kontrafaktische Aufwärtsvergleich beim Individuum anfänglich zu Reue und Niedergeschlagenheit führt, zeigt er ihm bald die Richtung auf, die es zur Verwirklichung des gewünschten Resultats einzuschlagen gilt. Ein Tennisspieler, welcher eine Führung aus den Händen gibt, weil er unter Druck Doppelfehler produziert, mag im ersten Moment nach seiner Niederlage selbstpeinigende Gedanken haben. Sofern dieses Gefühl der Reue jedoch dazu führt, dass er an seinem Aufschlag arbeitet, wird er zukünftig in der Lage sein, ähnliche Situationen besser zu händeln.

    Ein Lernprozess kann freilich nur hervortreten, wenn der kontrafaktische Gedanke eine Information enthält, die von kausaler Bedeutung ist. Dies ist der Fall, wenn das Alternativereignis (z. B. besserer Aufschlag) die Diskrepanz zwischen dem faktischen Resultat (z. B. Niederlage) und dem kontrafaktischen Resultat (z. B. Sieg) aufzuheben verspricht. Nur dann kann von dem Aufwärtsvergleich eine positive Wirkung auf die zukünftige Leistung ausgehen: Der Tennisspieler erwägt, an einer konstanteren Aufschlagbewegung zu arbeiten.

    Hier bäumt sich aus meiner Sicht ein großes Problem auf. Sind wir wirklich in der Lage, kausal präzise Aussagen über hypothetische Ereignisse in der Vergangenheit zu treffen? Anders ausgedrückt: Können wir über die Folgen einer Handlung Bescheid wissen, die nie stattgefunden hat? Möglicherweise hätte besagter Spieler das Match auch dann verloren, wenn ihm keine Doppelfehler unterlaufen wären. Niemand weiß, wie die Ballwechsel ausgesehen hätten. Womöglich hätte das Match eine ganz andere Dynamik bekommen. Wie können wir dann aber mit Sicherheit sagen, dass ein besserer Aufschlag die Niederlage verhindert hätte? Ich glaube, wir können lediglich konstatieren, dass das Match anders verlaufen wäre.


    Die Mentalität des Individuums

    Ferner möchte ich behaupten, dass die Wirkung kontrafaktischer Gedanken nicht bei allen Menschen gleich ist. Welche Art von Wirkung sie entfalten, hängt aus meiner Sicht von der Mentalität des Individuums ab. Unter der Mentalität verstehe ich die Summe aller Erfahrungen und Überzeugungen eines Menschen, welche seine Denkweise bestimmen. Bei dem einen führen kontrafaktische Aufwärtsvergleiche zu Reue und Resignation, bei dem anderen erzeugen sie Verlangen und Aktion.

    Betrachten wir zunächst jene Gruppe, die durch kontrafaktische Aufwärtsvergleiche überrollt und langfristig entmutigt wird. Obwohl ich keine wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema durchgeführt habe, bin ich der Meinung, dass die Deutschen im besonderen Maße davon betroffen sind. Fragte man einen gemeinen Deutschen, mit welcher Farbe er die Chancen der heute lebenden Generation in seinem Land illustrieren würde, so bekäme man gewiss keine Pastellfarbe zur Antwort. Das Naturell der Deutschen ist eher pessimistisch: der Glaube an die eigene Veränderungskraft ist gering ausgeprägt, die Apathie gegenüber Umbrüchen hingegen sehr stark. Vor diesem Hintergrund entmutigen kontrafaktische Aufwärtsvergleiche aus meiner Sicht nur noch zusätzlich.

    Zur zweiten großen Gruppe zähle ich jene Individuen, deren Mentalität aktionsbestimmter, ja positiver ist. Bei diesen Menschen rufen kontrafaktische Aufwärtsvergleiche die Sehnsucht nach Besserem hervor. Zwar mag sich auch die erstgenannte Gruppe sehnen, jedoch mündet die Sehnsucht nur bei letzteren schließlich in Aktion. Pessimistisch veranlagten Menschen fehlt es an dem nötigen Veränderungswillen und dem dazugehörigen Selbstvertrauen, die Dinge mit letzter Konsequenz durchzuziehen.*

    Wir halten fest: Während kontrafaktisches Denken bei bestimmten Menschen zu Resignation führt, bewirkt es bei anderen Menschen Motivation. So weit zur Diagnose. Doch was ist die Konsequenz? Ist es ratsam, kontrafaktische Gedanken je nach Art der Persönlichkeit entweder zu unterdrücken oder zu vertiefen?


    Gefährliche Extreme

    Zunächst: Der Versuch, jegliches kontrafaktische Denken zu vermeiden, ist aus meiner Sicht nicht nur nicht erfolgreich, sondern auch gefährlich. Unser Geist denkt bei jeder Entscheidung kontrafaktisch. Nicht mehr kontrafaktisch zu denken, würde bedeuten, jedweden Lebenssinn einzubüßen. Es würde bedeuten, dass einem alle Dinge gleichgültig sind. Man ergibt sich seinem Schicksal und verliert irgendwann die Motivation, morgens aufzustehen.

    Ebenso selbstzerstörerisch aber kann ein Zuviel an kontrafaktischem Denken sein. Auf den ersten Blick erscheint es konsequent, dass der, welcher Motivation aus aufwärtsgerichteten Vergleichen zieht, derartige Gedanken forcieren sollte. Nimmt das Verlangen nach immer Besserem jedoch Überhand, besteht die Gefahr der Überbelastung. Das betreffende Individuum wird nie Zufriedenheit verspüren. Die Erfüllung einer Sehnsucht weckt zugleich eine Neue, da die Wirklichkeit nie mit der Möglichkeit übereinstimmen kann.

    Liegt die Lösung des Problems also wieder einmal im goldenen Mittelweg? Gibt es so etwas wie ein optimales Maß kontrafaktischen Denkens, das den gesunden Verstand auszeichnet? Wo aber sind die Grenzen zwischen gerade noch gesund und bereits ungesund zu ziehen? Eine allgemein gültige Antwort scheint mir aufgrund der angesprochenen Unterschiede in den Mentalitäten kaum möglich. Vielmehr hängt die Antwort davon ab, welche Wirkung der Aufwärtsvergleich beim Individuum hervorruft. Führt er tendenziell eher zu Motivation oder Resignation?


    Die Kur für den Resignierten

    Derjenige, bei dem kontrafaktisches Denken Frust und Resignation verursacht, sollte bei seinen Überlegungen ein möglichst breites Spektrum an Alternativen berücksichtigen. Wer sein Scheitern in einem engen Match an einer Hand voll Punkten festmacht, wird mit dem Ergebnis zwangsläufig unzufrieden sein. Wer hingegen eine Bandbreite an möglichen Punktdifferenzen in Erwägung zieht, auch solche, die schlechter sind als das tatsächliche Ergebnis, verringert die negativen Wirkungen des Kontrasteffekts.

    Der Drang zu Wissenschaft, das Suchen nach Erklärungen für Tatsachen und Ereignisse, scheint dem Menschen vorbehalten. Jedoch neigen wir in unserer Ursachenforschung nicht selten zu Eindimensionalität. Wir greifen nach der erstbesten Erklärung, die uns logisch erscheint und ziehen bei unserer Beurteilung nur eine winzige Teilmenge aller möglichen Folgerungen in Betracht. Sobald wir einen kausalen Faktor auszumachen glauben, erheben wir diesen zur "einzigen Ursache", obwohl wir durch fortgesetzte Überlegung zu vollkommenen anderen Folgerungen gelangen könnten. Um Trugschlüsse zu vermeiden, sollten wir danach streben, möglichst viele Anker zu identifizieren, die zum Scheitern geführt haben. Auf diese Weise bekommen wir ein realistischeres Bild der Wirklichkeit und finden möglicherweise doch etwas, woran wir arbeiten können.

    Dies setzt freilich voraus, dass es uns einerseits gelingt, kausal bedeutsame Zusammenhänge zu erkennen, und anderseits, dass wir im Besitz der vollen Kontrolle über die betreffenden Ereignisse sind. Ist dies nicht gegeben – und das ist aus meiner Sicht der weitaus häufigere Fall –, sind kontrafaktische Gedanken dysfunktional. Es gibt dann nichts, was man hätte anders tun können. Das Hadern mit der Vergangenheit erzeugt lediglich noch mehr Qual und lähmende Selbstpeinigung ohne erkennbaren Sinn. Um von derartigen Zweifeln abzulassen, stelle man sich vor dem geistigen Auge vor, wie der quälende Gedanke auf einer Wolke an einem vorbeizieht.


    Die Kur für den Sehnsüchtigen


    Zuletzt: Worin besteht die Kur für den Getriebenen, den Sehnsüchtigen, der durch seinen Aktionszwang Gefahr läuft, irgendwann ausgebrannt zu sein? Vermutlich hilft demjenigen bereits, sich die unüberbrückbare Differenz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit bewusst zu machen. Für welchen Weg man sich im Leben oder auf dem Tennisplatz auch entscheidet: Nie können alle Möglichkeiten verwirklicht werden. Es gibt immer etwas, das man verpasst. Diese Einstellung macht unrealistischen Erwartungen eventuell den Garaus und ermöglicht, mit der Begrenztheit der Erfüllung besser klarzukommen.

    Was bleibt letztlich zu konstatieren? Jeder von uns, sofern er mit dem Leben nicht schon abgeschlossen hat, denkt kontrafaktisch. Der Einfluss, den derartige Gedanken auf uns ausüben, ist jedoch von Mensch zu Mensch verschieden. Deshalb muss auch jedes Individuum einen eigenen Weg finden, mit diesen Gedanken umzugehen. Für den einen sind Aufwärtsvergleiche ein wertvoller Motivationsquell, für den anderen nichts weiter als eine qualvolle Tortur. In keinem Fall sollte man kontrafaktischen Gedanken jedoch zubilligen, zerstörerisch auf das eigene Selbst zurückzuwirken.


    Spindoc

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    * Der Autor hat übrigens kein Problem damit, offen einzugestehen, Deutscher zu sein ;-).


    Literaturquellen
    • Medvec, V. H. et al. (1995). When less is more: Counterfactual thinking and Satisfaction Among Olympic Medalists, in: Journal of Personality and Social Psychology, Volume 69, Issue 4, S. 603–610
    • Naquin, C. E. (2003). The Agony of Opportunity in Negotiation: Number of Negotiable Issues, Counterfactual Thinking, and Feelings of Satisfaction, in: Organizational Behavior and Human Decision Processes, Volume 91, Issue 1, S. 97–107
    • Roese, N. (1994). The functional basis of counterfactual thinking, in: Journal of Personality and Social Psychology, Volume 66, Issue 5, S. 805–818
    • Roese, N. (2007). "Ach hätt ich doch...!", in: Psychologie Heute, März 07, S. 20–25
    • Schmid, W. (2007). Wer will schon in der Wirklichkeit leben?, in: Psychologie Heute, März 07, S. 27–31
    • Sirois, F. M. (2004). Procrastination and counterfactual thinking: Avoiding what might have been, in: British Journal of Social Psychology, Volume 43, Issue 2, S. 269–286
    • Tykocinski, O. E. / Steinberg, N. (2005). Coping with disappointing outcomes: Retroactive pessimism and motivated inhibition of counterfactuals, in: Journal of Experimental Social Psychology, Volume 41, Issue 5, S. 551–558
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    ... frustrieren mich eher.
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    • 08.07.2010
    • 147

    #2
    Erinnerung

    von Alexander Puschkin


    Wenn für den Sterblichen der laute Tag verweht,
    Sich auf die stummen Parkanlagen
    Halb durchsichtig nächtlicher Schatten legt
    Und Schlaf, der Lohn für Tagesplagen,
    Zu dieser Zeit ziehn sich im Stilln für mich
    Die Stunden hin des quälerischen Wachens:
    Beim Nichtstun, nachts, trifft brennender der Biss
    Des nimmermüden Herzensdrachens;
    Die Träume brodeln; Schwermut drückt das Hirn
    Im Überfluss schwerer Gedanken;
    Stumm breitet die Erinnerung vor mir
    Den Bauernkittel aus, den langen:
    Und widerwillig lese ich mein Leben,
    Das ich verfluch, mich selber hassend,
    Beklag mich bitter, weine bittre Tränen,
    Und weiß nicht eine Zeile auszuwaschen.

    (1828)

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