Entspannt bleiben in Drucksituationen

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  • Spindoctor
    Postmaster
    • 08.07.2010
    • 147

    Tutorial Entspannt bleiben in Drucksituationen

    Entspannt bleiben in Drucksituationen


    Ehe Nicolas Mahut das Marathon-Match gegen John Isner im fünften Satz von Wimbledon mit 68:70 verlor, hat er 64 Mal (!) hintereinander erfolgreich gegen den Matchverlust serviert. Wie ist es möglich, unter Druck derart konstant zu sein? Wie konnte Mahut in dieser Stress-Situation so lange standhaft bleiben? Antwort: Die Profis nehmen Druck nicht auf die selbe Art wahr, wie es die meisten Menschen tun. Sie finden Wohlgefallen in Drucksituationen. Ja, sie haben Spaß unter Druck!

    In diesem Thread erörtern wir die Geisteshaltung, das innere emotionale Klima und vor allem das physische Empfinden, welches mit "Spaß unter Druck" assoziiert wird. Ich gebe euch auch eine praktische Trainingsmethode an die Hand, die euch dabei helfen kann, dieselbe mächtige Konstellation von Gedanken, Emotionen und Empfinden in euren eigenen Matches zu erzeugen wie die Profis.


    Sich dem Druck annehmen

    Glaubt nicht, dass die Profis vor einem Match nicht auch nervös sind. Pete Sampras hat einmal zugebeben, vor großen Finals sogar äußerst nervös gewesen zu sein. Dennoch war Pete einer der entspanntesten Spieler in Drucksituationen. Er brachte seine besten Schläge, wenn er sie brauchte und konnte damit vielen Matches eine Wendung geben. Etwas musste sich also geändert haben zwischen dem Gefühl der Nervosität vor dem Match und seinem Gefühlszustand im Match selbst.

    Ein weiteres Beispiel: Erinnert euch an jene denkwürdige Nightsession zwischen Andre Agassi und Marcos Baghdatis bei Agassis letzten US Open. Beide waren dem Umfallen nahe und wehrten gegenseitige Matchbälle mit spektakulären Schlägen im fünften Satz ab. Sie schlugen einen Winner nach dem anderen obwohl sie kaum noch stehen konnten. Beide Spieler blühten in engen Situationen geradezu auf.

    Talent und Training spielen natürlich eine wichtige Rolle, um unter Druck seine beste Leistung zeigen zu können. Aber das eigentliche Geheimnis besteht darin, sich dem Druck bereitwillig anzunehmen, zu lernen, körperlich ausreichend relaxt zu bleiben und die Nervosität in eine positive Kraft zu überführen.

    Das meine ich, wenn ich davon spreche, Spaß unter Druck zu finden. Nur so könnt ihr eure Chancen erhöhen, das kritische Aufschlagspiel bei 4-5 im letzten Satz zu gewinnen. Auf fast jedem Spiellevel empfinden die Akteure jedoch das genaue Gegenteil. Enge Momente mögen die wenigsten Spieler.

    Alle Wettkampfspieler sagen, dass sie gewinnen wollen, aber tief in sich drin wollen sie eigentlich nur so schnell wie möglich vor den unangenehmen Gefühlen einer engen Situation fliehen. Für die meisten Spieler fühlt sich Druck nicht angenehm an, er ist überwältigend. Das kommt daher, weil ihr Körper mit Hormonen überflutet wird, die mit Stress und Angst verknüpft sind. Diesen Gefühlen kann man nur ausweichen, indem man aus dem Match aussteigt oder seinen Fokus auf etwas Externes richtet, was um einen herum geschieht.

    In dieser Situation versuchen die Spieler unmögliche Schläge, sie sacken ein oder machen sich in die Hose. Oder sie lassen sich ablenken von irrelevanten Dingen, z. B. dem Gegner, Entscheidungen vom Punkt zuvor, Zuschauern, etc.


    Subjektiver Druck

    In Wirklichkeit ist Druck subjektiv. Alles hängt davon ab, was Druck für den betreffenden bedeutet und wie er ihn empfindet. Wie stark jemand durch Druck beeinträchtigt wird, hängt von dem Glauben an seine Fähigkeit ab, die Situation händeln zu können. Und wie man sich innerlich fühlt.

    Elitäre Sportler sind nicht überwältigt, weil sie nicht auf die selbe Weise fühlen wie Durchschnittssportler. Michael Jordan hat einmal gesagt: "The day I don’t feel nervous is the day I know I must quit the game of basketball." Trotz seiner ursprünglichen Nervosität wollte Michael immer den Ball haben. Er war vielleicht so nervös wie Pete Sampras vor dem Match. Aber als es wichtig wurde, war er so entspannt, dass ihm seine Zunge beim Dribbling oft heraushing (Klick!). Das ginge nicht, wenn er verkrampft gewesen wäre.


    Der Nutzen von Anspannung

    Um sich dem Druck anzunehmen und ihn zu genießen, solltet ihr euch zunächst eingestehen und akzeptieren, dass ihr euch hin und wieder körperlicher Anspannung gegenüberseht. Versucht nicht, dies zu leugnen oder zu übertünchen. Pete Sampras und Michael Jordan hatten keine Probleme damit, ihre Nervosität zuzugeben. Deshalb: Leugnet nicht eure eigenen Ängste.

    Ihr müsst verstehen, dass diese Anspannung, selbst akute Nervenanspannung, ein Katalysator zu Höchstleistung sein kann. Sie zeigt euch zumindest, dass ihr engagiert bei der Sache seit und dass euch der Moment wichtig ist. Es bedeutet auch, dass ihr eine mächtige Energiequelle zur Verfügung habt, wenn ihr sie nur in der richtigen Weise nutzt. Das Geheimnis besteht darin, die Angst und die Nervosität zu akzeptieren und sie anschließend durch körperliche Entspannung in positive Energie zu transformieren. Letzteres kann man lernen.

    Es fühlt sich nicht gut an, wenn wir verspannt sind. Wenn wir verkrampfen, schlagen wir den Ball zu sehr mit den Muskeln, wir können nicht klar denken und nutzen unser Potential nicht voll aus. Dieses Wissen allein bewirkt aber noch keine Änderung.

    Gibt es eine Methode, mit der wir lernen können, unsere Nervosität in positive Energie umzuwandeln? Die Antwort lautet ja! Wir können lernen, unsere Einstellung zu ändern und unsere inneren Gefühle unter Druck zu instrumentalisieren.


    Entspannung trainieren

    Herbert Benson hat in seinem Buch "The Relaxation Response" bewiesen, dass wir körperliche Entspannung lernen können. Jeder Spieler kann lernen, seine Muskelanspannung zu reduzieren und seine Herzfrequenz zu senken. Damit entrinnen wir dem Teufelskreis: Anstatt fester und fester zu werden, entspannen wir und können die freigewordene Energie nutzen, um unser bestes Tennis zu spielen.

    Das Geheimnis heißt "Progressive Muskelentspannung". Wer Bensons Technik trainiert, kann innerhalb von nur 6 Wochen die Art und Weise verändern, wie sein Körper mit Stress umgeht. Progressive Muskelentspannung wird weltweit in Krankenhäusern angewendet, um Bluthochdruck zu reduzieren und Stress zu bekämpfen. Ihre Verbreitung im Sport ist im Laufe der Jahre rapide gestiegen und wird heute als populäre Methode zur Reduzierung von Versagensängsten implementiert.

    Die Wahrheit ist, dass kein Spieler seinem Körper von hier auf jetzt Entspannung befehlen kann. Aber wenn ihr progressive Muskelentspannung regelmäßig trainiert, werdet ihr unter Druck generell nicht mehr so stark verkrampfen wie einst. Und wenn ihr dann tatsächlich angespannt seit, könnt ihre die spezifischen Anspannungsgebiete im Körper identifizieren und euch erinnern, wie es sich anfühlt, die betreffende Region zu entspannen.


    Progressive Muskelentspannung

    Wie funktioniert das nun? Es ist eigentlich ganz simpel. Sucht euch einen Ort, an dem ihr für ein paar Minuten ungestört sein könnt. Legt euch auf den Boden oder auf ein Bett, falls dies möglich ist. Es funktioniert allerdings auch im Sitzen oder im Stehen.

    Atmet zunächst ein paar Mal ganz tief und ganz langsam ein und aus. Im Folgenden konzentriert ihr euch immer nur auf einen ganz bestimmten Teil eures Körpers. Spannt die Muskeln dieses Körperteils an und haltet die Spannung für 7 Sekunden aufrecht. Anschließend entspannt ihr denselben Muskel bewusst für 15 Sekunden.

    Atmet tief ein und aus, wenn ihr die Muskeln entspannt (durch die Nase einatmen, durch den Mund ausatmen). Während dieser 15 Sekunden solltet ihr den Unterschied spüren zwischen der Anspannung vom Moment zuvor und dem neuen, entspannteren Gefühl des Muskels. Das bewusste Wahrnehmen dieses Unterschieds ist wichtig!

    Wenn ihr ein Körperteil angespannt und entspannt habt, ist das nächste Körperteil an der Reihe. Erneut spannt ihr den betreffenden Muskel 7 Sekunden lang an und entspannt ihn anschließend für 15 Sekunden. Hier ist die Reihenfolge:

    1. Winkelt euren bevorzugten Arm (bei Rechtshändern rechts) an und ballt, so stark wie ihr könnt, die Hand zur Faust. Dann entspannen und zurückführen. Dasselbe macht ihr mit dem anderen Arm.

    2. Zieht die Schultern möglichst weit in Richtung Ohren nach oben. Erneut 7 Sekunden halten und dann bewusst wieder nach hinten unten führen, sodass die Schulterblätter zusammengehen wollen.

    3. Spannt den Bauch an und zieht den Nabel dabei Richtung Wirbelsäule. Dann langsam entspannen. Vergesst das Atmen dabei nicht!

    4. Nun die Beine: Streckt ein Bein und spannt die Muskulatur an, indem ihr auch den Fuß nach innen biegt. Gleiches macht ihr anschließend mit dem anderen Bein.

    5. Spannt euren gesamten Körper noch einmal für 7 Sekunden an und entspannt ihn anschließend für 15 Sekunden. Fühlt dabei in euch und die einzelnen Körperpartien hinein. Spürt die Anspannung und die Entspannung, atmet bewusst ruhig ein und aus.

    Versucht, die Gefühle, die ihr in eurem Körper während der Entspannungsphase spürt, mit einem Wort zu beschreiben. Diese Schlüsselwörter formen die Basis, wenn ihr auf dem Platz steht und das Gefühl der Entspannung abrufen wollt. Einige Beispiele sind: "schwerelos, ruhig, kraftvoll, gelöst, etc". Ihr solltet jene Schlüsselwörter wählen, die sich für euch richtig anfühlen. Noch besser ist, wenn ihr eigene Wörter kreiert.

    Ihr könnt den Prozess für jedes Körperteil bei Bedarf auch zwei Mal durchlaufen, ehe ihr mit der nächsten Körperpartie fortfahrt. Oder ihr durchlauft den ganzen Prozess einmal komplett und wiederholt ihn dann von vorne. Mit etwas Übung entwickelt ihr die Fähigkeit, eine deutliche Veränderung in eurem Anspannungslevel zu erzielen.

    Sobald ihr mit dem Prozess vertrauter geworden seit, könnt ihr die Schlüsselwörter in kleine Sätze ausbauen. Sätze wie: "Ich genieße den Druck.", "Drucksituationen geben mir die Möglichkeit, mein bestes Tennis zu spielen.", "Ich liebe es, in dieser Situation zu sein." etc. Bildet eigene Sätze, die ihr für richtig haltet.


    Bilder im Kopf erstellen

    Wenn ihr mit dem Konzept der progressiven Muskelentspannung Fortschritte erzielt, könnt ihr noch einen Schritt weiter gehen und gedankliche Bilder einfügen. Stellt euch Situationen vor, in denen ihr euch gewöhnlich zu überwältigt und zu verkrampft fühlt. Basierend auf eurer verbesserten Selbstwahrnehmung könnt ihr herauszufinden, in welcher Region eures Körper ihr verkrampft. Stellt euch nun vor, wie ihr einen bestimmten Schlag oder eine bestimmte Schlagkombination ganz entspannt ausführt.

    Das Bild könnte ein langer, präziser Grundschlag sein. Oder ein erster Aufschlag auf die Rückhand des Gegners. Oder ein Passierschlag aus dem Lauf heraus. Oder ein hoher Vorhand-Volley mit einem wild zwirbelnden Ball. Oder was auch immer. Wählt eine Situation, die auf eurem eigenen Spiel basiert und stellt euch vor, wie ihr sie erfolgreich bewältigt.

    Übt den gesamten Prozess zwei oder drei Mal pro Woche für 6 Wochen. Das ist die Periode, die es braucht, damit reale Wirkungen eintreten. Den Lohn bekommt ihr auf dem Platz. Wenn ihr geübt seit in progressiver Entspannung, werdet ihr unter Druck nicht mehr so stark verkrampfen wie zuvor. Das kommt daher, weil ihr jetzt ein instinktives Gefühl dafür entwickelt habt, wie es ist, wenn der Körper entspannt bleibt.

    Solltet ihr verkrampfen, könnt ihr die Quelle der Anspannung identifizieren. Hört kurz in euren Körper hinein und sucht nach angespannten Gebieten. Meistens sind die größten Übeltäter die Schultern, die Arme oder die Beine. Es liegt an euch, die spezifischen Gebiete während eures Matches ausfindig zu machen. Durch kurzes An- und Entspannen des entsprechenden Körperteils könnt ihr euch entkrampfen.

    Erinnert euch anschließend an die Gefühle und die Bilder, die ihr für das betreffende Körperteil entwickelt und geübt habt. Nutzt die entspannten Gefühle während der Ausführung eurer Schläge. Wenn ihr den Prozess richtig durchlauft, könnt ihr die Änderung des Anspannungsgrads in eurem Körper wortwörtlich fühlen. Das erlaubt euch, auf eure Energie in positiver Weise zuzugreifen. Ihr könnt dies immer tun, wenn es notwendig ist. Oder sogar systematisch zwischen einzelnen Punkten oder Seitenwechseln.

    Ihr habt ein mächtiges Werkzeug entwickelt, das euch in euren optimalen Wettkampfzustand auf dem Platz versetzt. Es gibt euch die Chance, dieselbe Freude wie die Profis zu erleben, wenn sie ihre besten Schläge zur richtigen Zeit auspacken.

    Wenn ihr das nächste Mal bei 4-5 zur Grundlinie lauft und Nervosität verspürt oder darauf hofft, dass euch der Gegner das Spiel mit unerzwungenen Fehlern schenkt, erinnert euch an eure Sätze: "Ich liebe diesen Moment. Ich möchte nirgendwo anders sein als hier und jetzt." Erfreut euch daran, wenn ihr alle Energie in den Punkt gebracht habt und eure Vorhand in dem Moment den Gegner passiert, in dem es am wichtigsten ist.


    Spindoc
    Zuletzt geändert von Spindoctor; 06.08.2011, 23:08. Grund: Formatierung überarbeitet, Link repariert
  • gooogle
    Postmaster
    • 20.06.2007
    • 121

    #2
    Ein kurzer Kommentar. Ich glaube zwar auch das Profis anders mit Druck umgehen, aber Spaß macht das ihnen auch nicht. Federer hat in Interwies schon oft gesagt das er die Tage vor wichtigen Matches nicht schlafen kann, oder lies mal Open von Adre Agassi.
    Sie können diesen Druck vielleicht dazu verwenden konzentriert zu sein (denke bei Federer, Nadal so) , aber grundsätzlich ist Druck und Nervosität etwas unterschiedliches und meist kein positives Gefühl.
    www.tennis-community.de.vu

    Kommentar

    • Djoker
      Benutzer
      • 19.07.2010
      • 44

      #3
      Interessantes Thema.
      Tennis? Mein Leben!

      Kommentar

      • KolloFon
        Neuer Benutzer
        • 09.09.2010
        • 2

        #4
        ausführlich und sehr nützlich, auch für Drucksituationen außerhalb des Tennis.
        Ich finde die positive Einstellung und die Freude auf das Ereignis, auf das man sich so lange vorbereitet hat und weswegen man den Druck verspürt, extrem wichtig...so ne Art Lampenfieber vor einem Konzert...man ist vorbereitet, es gibt trotzdem Tücken, aber man freut sich auf das, was man tut.

        Hab in dem Zusammenhang mal das Buch von Daniel Hope gelesen...er schrieb, die Nervosität darf einen nicht behindern...aber in "gesunder" Dosis steigert sie die Aufmerksamkeit und Konzentration. Finde ich gut so...Wohnen mit Service gibt's woanders; auf dem Platz (oder Bühne) wird's spannend!
        Zuletzt geändert von KolloFon; 21.09.2010, 13:50.

        Kommentar

        • krapps_tape

          #5
          Sehr guter Beitrag – kann ich nur bestätigen.

          Allerdings ist das Ankern mentaler Zustände nur abrufbar ist, wenn ich es konstant übe – so wie ich einen Gong immer wieder anschlagen muss, wenn er nicht verhallen soll.

          Übrigens habe ich bei der Sommerchallenge dieses Jahr bei den Aufschlagmessungen einmal aus entspannten Zustand und dann bewusst mit Kraft aufgeschlagen, der Unterschied lag – neben der Kraftersparniss - bei ca. 10% mehr beim Aufschlag aus entspanntem Zustand.

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