Punktaufbau von der Grundlinie
In diesem Tutorial schauen wir uns einen Punkt zwischen Andre Agassi und Ivan Lendl aus dem Jahr 1993 an, untersuchen, welche Überlegungen bei der Wahl der Schlagrichtung von der Grundlinie eine Rolle spielen, und lernen, wann der richtige Zeitpunkt für den Punktabschluss gekommen ist. Auf geht's!
Andre Agassi (vorne) zeigt, was einen gelungenen
Punktaufbau ausmacht.
Man wird mir einwenden, dass es sich hier ja um ein recht simples Beispiel handelt. Allerdings habe ich bewusst diesen recht überschaubaren Ballwechsel ausgewählt, weil ich glaube, hierdurch die einzelnen Phasen des Punktaufbaus leichter erkennbar machen zu können. Die gleichen Überlegungen gelten aber selbstverständlich auch für jeden anderen Ballwechsel, nur dass es oftmals um ein vielfaches komplizierter zur Sache geht. Dies ist den vielen Richtungswechseln geschuldet, infolge derer jetzt der eine, bald der andere Spieler am Drücker ist. Ich bitte den Leser daher, geduldig zu bleiben, auch wenn mancher Satz vielleicht schon zu trivial erscheint, als dass man ihn aussprechen müsste.
Punkteröffnung und Rallymuster
Ein strategisch klug aufgebauter Ballwechsel beginnt damit, jene Crosscourt-Rally einzufädeln, von der man sich Vorteile erhofft. Lendls Rückhand besitzt nicht annähernd so viel Zündkraft wie seine Vorhand, also serviert Agassi nach außen. Der Return Lendls kommt erwartungsgemäß cross auf Agassis Rückhand, sodass er Lendl nun in die erhoffte Rückhand-Rally verwickeln könnte. Da er mit seinem Aufschlag Lendls Vorhandecke aber bereits hinreichend geöffnet hat und der Return etwas zu kurz gerät, kann Agassi auch jetzt schon die Richtung des Balles ändern und den Punktabschluss probieren. Genau das tut er.
Lendl, dessen Vorhand aus dem Lauf damals ähnlich gut war wie später Sampras' und heute Nadals, bringt den Ball longline zurück und durchkreuzt somit Agassis Pläne eines schnellen Punktgewinns. Agassi muss sich nun entscheiden, ob er erneut longline spielt oder cross-court. Cross erscheint dabei aus mehreren Gründen als die bessere Wahl: Zum einen, weil Agassi durch Lendls Ball weit in die Rückhandecke und auch etwas nach hinten gedrängt wurde. Antwortet er cross, kann er den Platz nach dem Schlag schneller wieder abdecken. Zum anderen, weil er damit sein favorisiertes Rallymuster (zur Erinnerung: Rückhand-Cross) wieder aufnehmen und den Punkt neu starten kann.
Punktvorbereitung
Genau so kommt es. Agassi befindet sich jetzt im gewünschten Cross-Duell und kann im nächsten Schritt mit dem Punktaufbau beginnen. Da seine Schläge in dieser Konstellation superior sind, kann Agassi seinen Kontrahenten in eine Position manövrieren, in der dessen Bälle irgendwann zu kurz werden oder mittig landen. Dies probiert er zunächst mit einer inside-out geschlagenen Vorhand und anschließend mittels einer Reihe von Variationen in der Länge, der Höhe, der Geschwindigkeit und dem Winkel seiner Schläge. Gegen Spieler unterer Klassen würde es vielleicht schon ausreichen, einfach geduldig zu sein. Doch je höher die Spielklasse, umso härter muss man sich den kurzen Ball erarbeiten.
Richtungswechsel und Abschluss
Letztlich wird Lendl infolge einer Kombination der oben erwähnten Schläge in die gedachte Verlängerung des Doppelkorridors abgedrängt, sodass Agassi die Chance hat, einen kurz hinter die T-Linie platzierten Ball zum Richtungswechsel zu nutzen. Damit wird die letzte Phase des Punktes eingeleitet: Der Abschluss. Entweder führt der Longline-Ball unmittelbar zum Punktgewinn oder er fungiert als Angriffsball, dem ein Volley am Netz folgt. Da Agassi den Ball auf einer angenehmen Höhe nehmen kann, geht er zurecht auf den direkten Gewinnschlag. Bei einem sehr tiefen Ball wäre hingegen die Variante mit dem Netzangriff die bessere gewesen.
Entscheidend für Agassis Punkterfolg war, dass es ihm gelungen ist, alle Rückhandschläge so platziert und / oder druckvoll zu spielen, dass Lendl nicht aus der für ihn nachteiligen Cross-Rally herauskam. Um auf ein Vorhandduell umzustellen, hätte Lendl longline spielen müssen. Doch da Agassi ihm keinen kurzen, mittigen oder langsamen Ball anbot, blieb dies ein risikoreiches Unterfangen. Agassis konstantes und variantenreiches Spiel hat Lendl in eine immer schlechtere Position gebracht, bis dass sich seine Vorhandecke weit genug für einen Longline-Winner geöffnet hat.
Zusammenfassung
Hier die Kurzfassung der dreistufigen Vorgehensweise zum erfolgreichen Punktaufbau:
- Jenes Rallymuster identifizieren und einfädeln, in dem Vorteile bestehen, z. B. Rückhand-Cross-Duell.
- In der Cross-Rally bleiben, bis der Gegner soweit abgedrängt ist, dass eine Lücke in seiner Platzabdeckung entsteht (dabei helfen Schläge mit Länge / Winkel / Spin / Geschwindigkeit oder einer Mischung all dessen).
- Einen kurzen Ball nutzen, um entweder einen direkten Gewinnschlag oder einen Angriffsball zu spielen.
So solltest du vorgehen
Beobachte einmal bei den Profis, welchem Spieler es häufiger gelingt, seinen besten Schlag einzusetzen. Welcher Spieler treibt seinen Gegner öfter nach außen oder nach hinten ab? Gibt es einen bestimmten Schlag oder eine Kombination von Schlägen, mit der ihm das gelingt? Nach welchen Bällen ändern die Spieler die Richtung? Ändern sich die vorherrschenden Rallymuster, wenn das Aufschlagrecht wechselt? Und dann stelle dir die gleichen Fragen in Bezug auf deinen Gegner im Match. Viel Erfolg!
Spindoc
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