Ein mentaler Leitfaden für dein Match
Tennisspieler müssen während eines Matches mit vielen Veränderungen fertig werden. Es gibt Phasen, die besonders intensiv und angespannt verlaufen, und es gibt Spielabschnitte, in denen beide Spieler routiniert ihr Programm abspulen. Freude und Frust, Euphorie und Enttäuschung – ein Tennismatch ist ein Auf und Ab.
Jede Phase ist ein Charaktertest, der bestanden werden muss, um im größeren Kontext des Matches erfolgreich zu sein. Dieses Tutorial soll eine Landkarte sein, die dir anzeigt, wie du auf häufig wiederkehrende Herausforderungen angemessen reagieren kannst. 8 Situationen, verpackt in kleine Fallbeispiele mit Lösungsvorschlag. Knapp und einfach geschrieben. Auf geht's!
1. Verhalten in der Anfangsphase
Du befindest dich in deinem ersten Aufschlagspiel. Dein Gegner und du tastet euch zunächst noch ab.
Nicht mit der Brechstange beginnen! Klüger ist Prozenttennis. Das heißt: Hohe Quote erster Aufschläge, Grundschläge cross und mit guter Höhe über das Netz spielen, Angriffsbälle longline schlagen und von den Linien wegbleiben (s. Video). Druckvolle Bälle, Bälle mit Unterschnitt und solche, die auf deine schwächere Seite kommen, dorthin zurückspielen, wo sie herkamen.
Nach Chancen Ausschau halten! Du solltest von Anfang an hellwach sein, um Stärken und Schwächen deines Gegners zu erkennen. Welche Seite ist seine stärkere? Welche Bälle kann er weniger effektiv zurückspielen? Wie ist es um seine Beinarbeit bestellt? Gib dich nicht damit zufrieden, einfach nur mitzuspielen. Such nach Möglichkeiten, in Führung zu gehen!
Die Profis spielen seltener an die Linien ran, als Hobbyspieler glauben. Nur 2
der 11 Schläge dieser Rally landen außerhalb der roten Box, die ringsum etwa
1 m Abstand zum Aus hat.
2. Verhalten bei hoher Führung
Du hast das Match unter Kontrolle. Dein Selbstvertrauen ist hoch, deine Schläge fühlen sich mühelos an und deine Beinarbeit kommt wie aus einem Guss. Dein Kontrahent zeigt Zeichen der Frustration.
Bleib konzentriert und lass dich nicht ablenken! Schaltest du einen Gang zurück und gibst hier und da leichtfertig ein paar Punkte ab, kann dies deinen Gegner wieder stark machen. Er fühlt sich plötzlich besser und spielt auch wieder besser. Du hingegen weist, dass du nicht hättest nachlassen dürfen und spielst auf einmal deutlich schlechter.
Falls möglich, schalte sogar noch einen Gang hoch! Spieler, die sich auf der Verlierstraße befinden, werden tendenziell besser. Weil sie nichts zu verlieren haben, gehen sie höhere Risiken ein. Sei nicht überrascht, wenn du auf einmal Returnwinner einstecken musst, die es zuvor nicht gab. Auch nach einer Taktikänderung solltest du Ausschau halten. Dein Kontrahent wird nicht lange daran festhalten, wenn du deine Intensität erhöhst und ihm Einhalt gebietest.
3. Verhalten bei strittigen Entscheidungen
Du liegst in Führung als dein Gegner einen Ball Aus gibt, der deines Erachtens auf der Linie oder im Feld war.
Lass dich nicht auf lange Diskussionen ein, wenn du weißt, dass dich das ablenkt! Manche Gegner dehnen absichtlich die Regeln oder machen unsportliche Manöver, wenn ihnen die taktischen Optionen im Spiel ausgehen. Ihr Ziel ist es, deine Konzentration zu stören, auch wenn sie dies nie zugeben würden.
Geh stattdessen ruhig zum Netz und frag deinen Gegenüber höflich aber bestimmt, ob er sich mit seiner Entscheidung sicher ist. Falls ja: Gib zu erkennen, dass du den Ball auf der Linie gesehen hast und frag ihn, ob er zu einer Punktwiederholung bereit wäre. Falls nicht, solltest du zügig weiterspielen. Vermeide längere Pausen, wenn du in Führung liegst.
Hatte immer ein paar nette Worte für den
Stuhlschiedsrichter übrig: John McEnroe.
4. Verhalten bei Breakball gegen dich
Du hast eine Break-Führung im Rücken und es steht 30-30 in deinem Aufschlagspiel. Den nächsten Punkt vergibst du mit einem unerzwungenen Fehler.
Achte auf deine Körpersprache! Du kannst den Fehler zwar nicht mehr rückgängig machen, aber du hast es in der Hand, welchen Einfluss er auf deinen Kontrahenten hat. Er wird sich stärker daran hochziehen können, wenn du ihm unverhohlen zeigst, wie dich dein Missgeschick frustriert. Mach ihm dieses Geschenk nicht. Dreh dich stattdessen kurz weg und ...
... sieh den Breakball als Chance, gestärkt aus dem Spiel zu gehen! Gelingt es dir, deinen Aufschlag doch noch durchzubringen, kann dies dein Selbstvertrauen enorm unterfüttern und den Willen deines Gegners brechen. Es wäre nicht das erste Mal, dass im Anschluss an solch eine Bewährungsprobe schnell ein zweites Break zu deinen Gunsten fällt.
5. Verhalten bei hohem Rückstand
Du liegst im entscheidenden Satz mit 1-4 zurück. Dein Gegner spielt mit überragendem Selbstbewusstsein und gewinnt die Punkte scheinbar mit Leichtigkeit.
Spiel einen Punkt nach dem anderen! Wenn du zurückliegst, geht das Punktesammeln nicht so leicht von der Hand wie in Führung liegend. Nutz die maximal erlaubte Zeit zwischen den Aufschlägen, um dich zu sammeln und deinem Gegner den Wind aus den Segeln zu nehmen. Versuch zudem, in jedem Spiel den ersten Punkt zu machen.
Glaub an deine Chance! Der Gewinn eines Spiels kann mental bereits einen großen Unterschied ausmachen. Ein 2-4 ist besser als ein 1-5, um die Wende einzuleiten. Du fühlst dich besser und dein Gegner spürt, dass die letzten Meter doch nicht so einfach sind wie gedacht. Beides zusammen kann dem Match einen Dreh geben, der zuvor nur "durch ein Wunder" möglich schien.
Wenn alles gegen einen läuft, verliert man leicht die Hoffnung –
und eine Stange Schläger.
6. Verhalten nach erfolgreichem Rebreak
Du hast soeben einen Break-Rückstand wettgemacht und zum 4-4 im entscheidenden Satz ausgeglichen. Das Spielvermögen und die Kraftreserven von dir und deinem Gegner halten sich die Waage.
Greif dein Glück mit den Händen, anstatt abzuwarten! Die Leistung deines Gegners kann sich ändern, wenn du ausgleichst. Seine Angst, die Führung zu verlieren, hat sich bewahrheitet. Das führt entweder dazu, dass er mit weniger Last auf den Schultern spielt oder zornig wird. In beiden Fällen wird er Kräfte mobilisieren, welche die Waage zu seinen Gunsten kippen lassen können.
Deshalb: Nicht ausgleichen und warten, was passiert. Spiel stattdessen aggressiv weiter. Besonders wichtig ist dies, wenn du gegen einen Kontrahenten spielst, gegen den du nicht favorisiert bist. Das Fenster, um in Führung zu gehen, ist nach dem Ausgleich so offen wie nie. Wenn du allerdings wartest, werden es bessere Spieler i. d. R. schnell wieder zustoßen.
7. Verhalten nach verlorenem Tie-Break
Du verlierst einen engen ersten Satz nach Vergabe eigener Satzbälle im Tie-Break.
Behalte eine positive Einstellung bei! Es passiert häufig, dass Spieler sich von ihrer Enttäuschung über den Satzverlust entmutigen lassen, während ihr Gegner gleichzeitig einen Schub an Selbstvertrauen bekommt. Das Produkt aus beidem ist ein einseitig verlaufender zweiter Satz. Sei stattdessen kämpferisch und zeig dies auch in deiner Körpersprache.
Achte auf Spielmuster während des Matches! Dein Gegner spielt Passierbälle stets cross? Er returniert bei einem bestimmten Aufschlag immer auf die gleiche Weise? Nimm derartige Dinge wahr, um bei wichtigen Punkten einen mentalen Vorteil gegenüber deinem Gegner zu haben. Gelingt es dir, die Richtung seiner Schläge zu erahnen, kann seine Frustration zunehmen.
8. Verhalten beim Ausservieren der Partie
Du führst mit Break und benötigst noch einen Aufschlaggewinn zum Satz- und Matchgewinn.
Intensiviere deinen Fokus! Dein Gegner wird in seiner Ausweglosigkeit waghalsige Schlagentscheidungen treffen, z. B. Longline-Returns, riskante Richtungsänderungen, ungestüme Netzattacken, etc. Wenn du mit deiner ganzen Aufmerksamkeit beim Spiel bleibst und mit derartigen Manövern rechnest, kannst du z. B. die Stellungsfehler, die er dabei begeht, ausnutzen. Muss er mit ansehen, wie du selbst seine letzten Rettungsversuche im Keim erstickst, wird er auch seine letzten Hoffnungen begraben.
Miss allen Punkten die gleiche Wertigkeit bei! Redest du dir ein, den nächsten Punkt gewinnen zu müssen, wirst du nur nervös. Nimm stattdessen alle Punkte gleich wichtig. Selbst wenn du einen Matchball leichtfertig vergibst: Mach dir klar, dass du weitere Chancen haben wirst, den Satz oder das Match zuzumachen. Nur weil du einen Punkt vergeben hast, heißt das nicht, dass auch der nächste Punkte verloren gehen muss. Indem du Routinen achtsam nachgehst, hältst du deinen Geist von unerwünschten Gedanken frei.
Die Konsequenzen, die sich aus übermäßigem Nachdenken im falschen
Moment ergeben, sind für uns überschaubar. Guillermo Coria kostete es
2004 den Traum vom Sieg in Roland Garros.
Ein Schlusswort
Ich vergleiche die Schwankungen im Momentum einer Partie immer gerne mit einer Waage. Jedes Matchereignis, das dich mental in ein Auf oder Ab versetzt, tut das entsprechende Gegenteil mit deinem Gegner.
Um das richtige Verhalten in einer bestimmten Situation abschätzen zu können, musst du zunächst erkennen, in welcher Position (oder Bewegung) sich die Waage gerade befindet. Dann musst du überlegen, wie dein Gegner sich in seiner Position verhalten wird und was du dem entgegensetzen kannst, damit die Waage zu deinen Gunsten kippt bzw. in gewünschter Stellung bleibt.
Mach dir zudem klar, dass die Waage jederzeit kippen kann, auch dann noch, wenn du mit 1-5 im dritten Satz hinten liegst. Jederzeit können sich potentielle Wendepunkte ergeben, die dir oder deinem Gegner einen Euphoriestoß oder einen Dämpfer verpassen (z. B. ein spektakulärer Punktgewinn, ein Netzroller bei einem wichtigen Punkt, eine kurzzeitige Ablenkung, etc.).
Tritt solch ein Wendepunkt ein, ist es egal, welchen Vorsprung oder Rückstand die Anzeigetafel ausweist. Dann kann die mentale Waage sehr rasch zu Gunsten eines Spielers kippen und z. B. demjenigen, der hinten liegt, ein nicht mehr für möglich gehaltenes Comeback eröffnen.
Halte deshalb jederzeit die Augen nach potentiellen Wendepunkten offen und intensiviere deinen Fokus, wenn du sie erkennst. Ein potenzieller Wendepunkt kann, muss aber nicht zu einem tatsächlichen Wendepunkt werden. Das liegt bei dir.
Spindoc
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