Als jemand, der bereits in den 70ern als kleiner Bub mit Tennis angefangen, dann in der Jugend sporadisch spielte, dann nach 25jähriger Unterbrechung wieder begeistert anfing, erlebe ich eine Krankheit, eine regelrechte Seuche: Es handelt sich um den Steffi-Boris-Komplex, unter dem Deutschland leidet, sobald jemand mit Talent auf den Ball schlägt und sich erste internationale Erfolge einstellen.
Die Folgen dieser Krankheit sind klar zu erkennen: 1. dauerhafte Orientierung an der Vergangenheit mit der Gefahr des Realitätsverlustes für die Gegenwart; 2. Manisch-Depressives Verhalten zwischen euphorischem Gejubel, sobald ein Talent am Boris-Steffi-Maßstab ausgemacht wird, dann allfälliges Gejammer, wenn das Talent unter all den Erwartungen ausgebrannt begraben liegt; 3. Ansteckungsgefahr, indem man anderen damit gehörig auf die Nerven geht.
Kaum spielen „die deutschen Mädels“ anständig, kommt der Vergleich mit Steffi. Görges‘ Sieg in Stuttgart wurde für die Tennisnostalgiker und ihre Schreiberlinge einschließlich des Artikels darüber in der wichtigsten deutschen Tenniszeitschrift zur Zeitreise in die 80er/90er Jahre.
Was soll das? Die Spielen doch heute ein ganz anderes Tennis. Es ist doch fast ein anderer Sport, was die da heute Bälle raushauen und ausgraben. Klar waren das goldene Zeiten, aber man muss die Vergangenheit doch auch mal Vergangenheit sein lassen.
Freilich, mit den Boris-Steffi-&Co-Erfolgen wurde viel Geld verdient. Da wurde Tennis zum Breitensport, da wurden Plätze und Hallen gebaut. Als Verbandsgockel oder Politiker mit denen auf dem Foto, wurde man ganz wichtig. Als jemand, der selbst schon erste graue Haare hat, bekomme einfach zu viel von diesen Schreiberlingen und Amtsinhabern kurz vor dem Rentenalter, die noch im letzten Jahrhundert leben und den Boomjahren des deutschen Tennis nachtrauern.
Wieso sollte alles auf einmal besser werden, nur weil ein Deutscher das Potential hat, vielleicht zum Idol zu werden. Ein Federer, der sich mit der Eleganz eines Florettfechters, ein Djokovic, der sich mit der Virilität eines Gladiators auf dem Platz bewegt, ein Nadal, der wie kein anderer beherzt die Bälle peitscht, sollen die etwa nicht begeistern und als Vorbild dienen können, nur weil sie nicht aus dem eigenen Land kommen?
Das ist doch Unsinn, das ist doch nationalistisches Denken von vorgestern. Wer glaubt, mit einem erneuten „Tenniswunder“ à la Boris & Steffi würde alles wieder wie früher, der ist einfach auf dem Holzweg. Der Spaß an diesem Sport kann durch vieles vermittelt werden, aber bestimmt nicht durch Vorbilder und Einstellungen von vorgestern.
Die haben allen Respekt für ihre Leistungen verdient, doch diese Leistungen sind nun einmal Geschichte. Sie sind etwas für Sportgeschichtsbücher, nichts für Gegenwartsdiskurse. Die Zeiten von Boris und Steffi sind vorbei; und wer diesen damligen Hype beobachtete, der möchte fast hinausposaunen: Gott sei Dank sind sie vorbei!
Das heißt, sie sind nur fast vorbei; in der Werbung tauchen sie noch auf (und nerven). Was hat eine spezielle Biersorte oder eine Nudelsoße mit Tennis zu tun? Es ist doch peinlich, bis heute mit Werbung traktiert zu werden, nur weil Menschen vor einem Vierteljahrhundert Filzbälle außerordentlich gut über ein Netz spielen konnten. Aber was soll‘s.
Bei dem Boris-Steffi-Komplex handelt es sich wahrlich um eine Krankheit. Krankheit, weil sie dem Tennissport in der Gegenwart schadet. Das sollte endlich zur Kenntnis genommen werden: Die Vergangenheitsorientierung ist das Problem, nicht die Lösung. Die deutsche Tenniswelt vergreist allmählich und stirbt in Nostalgie. Kein Wunder, dass man dafür keine Sponosren findet. Wer investiert schon in die Patina von Gestern statt in eine selbstbewußte Aktualität?
Man möchte den Journalisten, den Verbandshonoratioren, den Marketingchefs zurufen: Lasst uns mit Boris und Steffi in Ruhe, hört auf mit eurer sportlichen Parusie-Erwartung, dass der neue Messias erscheinen wird, geht an die Klagemauer, jammert in das Gestein, aber verschont uns mit dem Boris-Steffi-Geschwätz.
Man ahnt es bei jedem Artikel, bei jedem Interview, bei jedem Rückblick: gleich kommt die Referenz auf das goldene Zeitalter – und dann kommt es. Es ist schon da, bevor es ausgesprochen ist und es ist einfach nervend. Die 80/90er sind vorbei, SIND VORBEI !!
Die Spieler sind heute besser, sympathischer, professioneller und fairer zueinander (Connors & McEnroes waren doch Kotzbrocken, ihr Verhalten auf dem Platz wäre heute undenkbar). Auch wenn nach einer Statistik ein Turnier wie Roland Garros in Deutschland zu zwei Dritteln nur noch von über 50jährigen gesehen wurde, Tennis war noch nie so schön, wie es heute von den unter Dreißigjährigen gespielt wird, das haben zuletzt die Finale der Paris Open wieder bewiesen. Und das Leben geht weiter...
Spaß ohne: Ich finde, dass dieser Beitrag sehr gut geschrieben ist. Stimme voll zu, obwohl ich kein Deutscher bin!
@gox
Danke für den netten Blog!