Eine Geschichte über die Wahrheit


In einer nicht näher bekannten Stadt lebte einmal ein König, der beobachten musste, wie seine Untertanen, Gelehrte und Nichtgelehrte, in Auseinandersetzung darüber gerieten, was die wahre Lehre und was die falsche Lehre sei. So hegten einige die Ansicht: "Ewig ist die Welt. Dies nur ist Wahrheit, alles übrige Irrtum." Andere folgten der Anschauung: "Vergänglich ist die Welt; dies nur ist Wahrheit, Irrtum alles andere." Es gab fürwahr solche, die sprachen: "Der Körper ist gleich der Seele, dies nur ist Wahrheit, etwas anderes Irrtum." Es gab aber auch solche, die vernehmen ließen: "Nicht entspricht der Körper der Seele. Der Körper ist das eine, die Seele das andere; dies nur ist Wahrheit, Irrtum alles andere."

So drangen sie mit schneidenden Worten aufeinander ein und Kampf und Streit entstand überall dort, wo Menschen unterschiedlichen Einflusses aufeinandertrafen: "Dies ist die rechte Lehre." – "Dies ist nicht die rechte Lehre." – "Nicht ist die rechte Lehre so, sondern so ist die rechte Lehre." Eines Tages befahl jener König seinen Dienern, alle von Geburt an Blinden, welche in der Stadt lebten, zu versammeln. Nachdem alle Blinden der Stadt ergriffen und dem König vorgeführt wurden, wies dieser ihnen den Weg zu einem Elefanten mit den Worten: "Dies, ihr Blinden, ist ein Elefant."

Einige derselben ließ er den Kopf des Tieres ertasten, andere die Ohren, den nächsten wies er den Stoßzahn zu, wiederum anderen den Rüssel. Einer betastete den Körper des Elefanten, ein anderer das Bein, einige berührten den Rücken und schließlich auch einige den Schwanz und die Schwanzquaste. Anschließend sprach der König: "So sagt nun, ihr Blinden, wem gleicht ein Elefant?"



Blind men and the Elephant, Foto: Pawyi Lee, Creative Commons Licence


Die Blinden, welche nur das Haupt des Dickhäuters ertastet hatten, erwiderten: "Ein Elefant, Herr, gleicht einem Topf." Jene, welche die Ohren berührten, sagten: "Ein Elefant ist gleich einem Handfächer." Diejenigen, die den Stoßzahn fühlten, erklärten: "Der Elefant gleicht einer Pflugschar", die den Rüssel abtasteten: "Ein Elefant ist wie ein Wasserschlauch." Diejenigen, welche den Körper vorgeführt bekamen, sagten: "Ein Elefant gleicht einer Wand", und die nur das Bein in Betracht zogen: "Ein Elefant ist wie ein Pfosten." Diejenigen, die den Rücken spürten, meinten: "Der Elefant ist wie ein Thron." Welche aber nur den Schwanz ertasteten, sprachen: "Der Elefant gleicht einem Seil." Und die von Geburt an Blinden, die nur die Schwanzquaste berührten, kamen zu dem Schluss: "Ein Elefant ist gleich einem Besen."

Sogleich brach unter den Blinden ein hitziger Streit aus: "Dem gleich ist ein Elefant." – "Ein Elefant ist nicht so." – "Nicht ist ein Elefant so, sondern so ist ein Elefant." Da prügelten sie mit Fäusten aufeinander ein, was den König wahrlich belustigte. Denn: So wie die Blinden sind auch die übrigen Menschen. Weil ihre Wahrnehmung unvollkommen ist, können sie nicht erkennen, was Sinn und Unsinn, Wahrheit und Unwahrheit ist. Sie hängen an diesen Dingen so sehr, dass sie ständig in Streit darüber versunken sind, obschon sie nur einen Teil erfassen.



Einige Gedanken meinerseits hierzu:


Unser dogmatisches Denken ("So verhält es sich.") provoziert geradezu Widerspruch ("Nein, so verhält es sich nicht."). Da die wenigsten imstande sind, Kritik in der Sache von ihrer Person zu trennen, ist der Teppich für Zorn und Ressentiment breit ausgerollt. Dieser Zorn führt wiederum zu Konflikten, die – wenn sie auf nationaler Ebene stattfinden und mit Worten nicht aufzulösen sind – in Kriegen münden. In (Tennis-)Foren führen besagte Konflikte meist zu unschönen Unterstellungen und Beleidigungen.

Aus meiner Sicht stehen uns zwei Möglichkeiten eines rationaleren Umgangs mit der "Wahrheit" offen. Einmal könnten wir versuchen, uns eine agnostische Geisteshaltung anzugewöhnen. Dies wäre der bequemere Weg und hieße, sich in allen Angelegenheiten mit dem Wissen um das eigene Nichtwissen einer abschließenden Meinung zu enthalten. Allerdings hat dieser Weg auch eine gewisse Handlungsunfähigkeit zur Folge, die wir uns in manchen Bereichen des Lebens schlicht nicht leisten können.

In diesen Feldern sollten wir danach trachten, eine wissenschaftliche Gesinnung zu entwickeln. Diese beinhaltet erstens, beide Seiten anzuhören, zweitens, alle erheblichen Tatsachen festzustellen, drittens, durch Diskussion mit dem gegensätzlichen Standpunkt die eigenen Thesen zu hinterfragen, viertens, als unzulänglich erwiesene Behauptungen aus dem Spiel zu nehmen und fünftens, jener Meinung den Vorzug zu geben, die nach Prüfung aller Evidenzpunkte die gegenwärtig höchste Wahrscheinlichkeit auf Richtigkeit besitzt.

Dies bedeutet auch, zum Zeitpunkt der Meinungsbildung weniger wahrscheinliche, gleichwohl plausible Hypothesen nicht gänzlich zu verwerfen, da sie unter Einbeziehung neuer Evidenzpunkte in der Zukunft unsere Gunst erhalten könnten. Zu keiner Zeit sollten wir die Erwartung hegen, finales Wissen zu erreichen, oder um es bildhaft zu formulieren: den Elefanten vollumfänglich zu begreifen. So einfach diese Prinzipien auch klingen: Fänden sie Verwirklichung, wäre unsere Welt ein ungleich angenehmerer Ort.


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