Mit einer Wildcard zum Turniersieg
Am letzten Tag ist nun endlich auch die Sonne angekommen bei den Gerry-Weber Open in Halle. Nach einer Woche wechselhaften, teils kühlen Wetters betreten Tommy Haas und Roger Federer um kurz nach 13 Uhr den Center Court. Für die Statistiker ist die Sache klar: Federer hat in allen wichtigen Vergleichen, dem Head-to-Head inklusive, die Nase um Längen vorn. Wer jedoch die Matches von Haas in dieser Woche verfolgt hat, weiß, dass der 34-jährige auf Rasen in bestechender Form ist. Mein Sitznachbar und ich sind uns einig, dass Haas nicht chancenlos sein wird.
Der erste Dämpfer unserer Euphorie lässt jedoch nicht lange auf sich warten. Federer kommt besser aus den Startlöchern, holt sich gleich im Auftaktspiel das Break. Wissend um Federers Aufschlagsicherheit während des Turniers und der Tatsache, dass auf Rasen oftmals schon ein Aufschlagdurchbruch zum Satzgewinn reicht, ahne ich nichts Gutes. Doch mein Urteil kommt verfrüht. Mit zwei Vorhandfehlern gibt Federer seinen Vorsprung im sechsten Spiel bereits wieder ab. Bei 4:5 ist es Federer selbst, der um sein Service kämpfen muss, weil sein erster Aufschlag und seine Vorhand ihn im Stich lassen. Der Schweizer schafft es, zwei Satzbälle abzuwehren, muss dafür aber zwei gute Aufschläge auspacken, da Haas vom Return weg aggressiv spielt. Einen weiteren Satzball pariert Roger im Tie-Break, ehe Haas den vierten bei eigenem Aufschlag für sich nutzen kann. Satzführung für den Deutschen! Wird Federer sich jetzt pushen und sofort im zweiten Satz zurückschlagen?
Tommy Haas spielte wie gewohnt aggressives Grundlinientennis.
Der kommt noch, sage ich selbstsicher zu meinem Sitznachbar. Ist es nicht gerade die Fähigkeit zu punktgenauen Leistungssteigerungen, die Federer zum Krösus der Moderne hat werden lassen? Die Fähigkeit, Widrigkeiten in einem Match als Test anzusehen, um sich zu beweisen und dann mit noch mehr Selbstvertrauen daraus hervorzugehen? Ich bin geduldig, wundere mich aber schon über den einen oder anderen ungewohnten Fehler des Maestros. Als Federer zu einem Zeitpunkt zwei Doppelfehler in Folge serviert, geht ein Raunen durch den Saal. "Was stimmt mit dem nicht?", fragt die Frau zu meiner Rechten, ohne von mir eine Antwort zu erwarten. Mit jedem weiteren Fehler Federers geht meine Selbstsicherheit ein Stück weiter in den Keller.
Bei 4:4 wieder ein enges Aufschlagspiel. Haas kommt zu einem Breakball. Zweiter Aufschlag. Federer greift longline an, Tommy spielt eine exzellente Vorhand cross aus dem Lauf, doch Federer kommt in Torwartmanier noch an den Ball ran. Haas probiert es jetzt mit einem Lob. Irgendwie schafft es Roger, den Ball nicht nur zu erlaufen, sondern auch noch lang an die Grundlinie zurückzuspielen. Weil Haas nun in der Defensive ist, greift Federer zu einem Stoppball. Der Ball gerät ihm zu lang, sodass Haas an ihn herankommt und Federer am Netz cross passiert. Zweifelsohne der beste Ballwechsel der Partie! Die Massen johlen. Jetzt muss Tommy nur noch einmal seinen Aufschlag durchbringen und das Wunder ist vollbracht.
Federer geht in diesem letzten Spiel nicht nur im übertragenen Sinne zu Boden, er verliert seine Balance an der Grundlinie zwischenzeitlich tatsächlich einmal und rutscht weg. Wenig später heißt es 7:6 und 6:4 für Haas. Nicht nur er kann es nicht glauben, auch einige Zuschauer können sich das Ergebnis nicht erklären. Hat Federer das Match abgeschenkt oder seinem Kumpel Haas den Sieg zumindest schon vor der Ziellinie zu sehr gegönnt?
"Das ist vielleicht der schönste Erfolg meiner Karriere. Ich wollte unbedingt
noch meinen 13.Titel gewinnen, weil 13 meine Glückszahl ist, aber dass es
hier auf deutschem Boden geklappt hat, ist unglaublich." - Tommy Haas
Zugegeben, Federer wirkte nicht sonderlich enttäuscht und setzte Mimik und Gestik während des Matches nur sparsam ein. Aber reicht dies für den Vorwurf mangelnden Ehrgeizes? Ich glaube, dass sich Federer seine Frustration im Match nicht anmerken ließ, um Haas nicht noch zusätzlich aufzubauen. Ganz gleich, ob der Punkt für ihn oder gegen ihn ausging, Federer akzeptierte beides gleichermaßen und schritt kühl zum nächsten Punkt. Meiner Meinung nach ist dies die richtige Einstellung, um mental in der Gegenwart zu bleiben. Davon abgesehen sprach Federer mehrfach davon, wie gerne er den Rasen-Grand-Slam (Halle, Wimbledon, Olympia) gewinnen möchte. Ich glaube, Federer wollte, konnte aber nicht. Sein Spiel auf Rasen ist einfach noch nicht so weit.
Für Tommy, der nur dank einer Wildcard von Ralf Weber ins Turnier kam, muss dieser Erfolg jedenfalls zuckersüß sein. Er spielte eine tolle Woche und belohnt sich am Ende selbst mit dem 13. Einzeltitel seiner Karriere, auf deutschem Boden und gegen den vielleicht besten Spieler aller Zeiten. Besser geht es nicht. Da waren seine Eltern und der kurzerhand aus L.A. eingeflogene Schwiegervater mächtig stolz.
Damit sind die 20. Gerry-Weber Open auch schon wieder Geschichte. Es war ein großartiges Jubiläumsturnier mit vielen sehenswerten Matches. Dass am Ende bei dieser starken Besetzung ausgerechnet ein Deutscher den Titel davontragen würde, hätten selbst die größten Optimisten nicht erwartet. Auch wenn es ein paar Dinge gab, die mir nicht so gefielen, überwiegen für mich doch die positiven Eindrücke aus dieser Woche. Halle 2012 war eine Reise wert!
Spindoc